Eva Stüber, IFH Köln 19.04.2018, 09:00 Uhr

"Amazon zwingt Händler verstärkt zu Kooperationen"

Jeder Deutsche tätigt im Schnitt 41,3 Bestellungen pro Jahr bei Amazon, zeigt die neue Studie "Amazonisierung des Konsums" des IFH Köln. Wir sprachen mit Studienleiterin Eva Stüber darüber, welche Perspektiven der klassische Einzelhandel da überhaupt noch hat.
Eva Stüber ist Mitglied der Geschäftsleitung beim IFH Köln.
(Quelle: IFH Köln)
In Ihrer Studie "Amazonisierung des Konsums" haben Sie sich stark mit Amazon als Infrastruktur des Konsums aus verschiedenen Perspektiven auseinandergesetzt. Welches Ergebnis hat Sie am meisten überrascht?
Eva Stüber:
Über Amazon wird sehr viel geredet, täglich kommen neue Meldungen und Initiativen heraus. Aber in der Einzelbetrachtung sieht man häufig gar nicht die umfassenden Zusammenhänge, wie ein Rädchen ins nächste Rädchen greift, das eigene Geschäftsmodell befeuert wird und das übergeordnete Ziel "Wachstum" im Fokus aller Bemühungen steht. Außerdem waren wir doch überrascht, wie stark Amazon inzwischen in den Köpfen der Konsumenten implementiert ist und Umsätze entweder direkt generiert oder zumindest in starkem Maße beeinflusst, weil große Anteile der Konsumenten sich eben bei Amazon informieren, bevor sie in einem anderem Online Shop einkaufen.
Ein Ergebnis Ihrer Studie ist, dass die Bestellhäufigkeit der Kunden extrem steigt, während die Anzahl der Produkte im Warenkorb deutlich sinkt. Andere Online-Händler würden aufstöhnen. Ist das ein rentables Geschäft?
Stüber:
Das ist eine sehr interessante Entwicklung. Man sieht, wie rasant die Bestellhäufigkeit zugenommen hat. 2004 waren wir noch bei durchschnittlich 8,1 Bestellungen pro Jahr. 2017 sind es 41,3. Das ist Wahnsinn. Dass gleichzeitig die Warenkörbe abnehmen, könnte negativ sein. Wenn man die Zahlen aber genauer betrachtet, wird deutlich, dass die Warenkorbgröße nicht unter eine kritische Grenze rutscht und dass Amazon durch die geschickte Aussteuerung nur Produkte in den alleinigen Versand gibt, die für das Unternehmen tragbar sind oder durch Verknüpfungen im Hintergrund sinnvoll subventioniert werden können. Die Zahlen zeigen aber auch, wie Amazon sich in unserem Leben und unserem Alltag eingenistet hat. Wir schreiben uns keine Einkaufszettel mehr und tätigen dann Sammelbestellungen. Stattdessen klicken wir auf den Bestell-Button, sobald ein Bedarf besteht. Durch die verschiedenen Bestelloptionen, die Amazon anbietet, wird dies auch immer einfacher gemacht. Wir haben inzwischen nicht nur Dash-Buttons irgendwo in der Wohnung kleben, sondern virtuelle Dash-Buttons auf dem Smartphone, die eine Bestellung auslösen. Mit Alexa wird das Ganze nochmal auf eine neue Ebene gehoben. Die App ist im Gegensatz zum Gesamthandel sehr stark positioniert und befeuert natürlich, dass ich, ob ich in der Bahn sitze, am Schreibtisch, aus dem Meeting heraus, in jeder Situation letztendlich einfach und bequem bestellen kann.
Der Einkauf auf Amazon ist das eine, Ihre Studie führt aber auch sehr drastisch vor Augen, wie Amazon das Informationsverhalten der Kunden beeinflusst. Nur ein Viertel der Online-Umsätze ist noch unabhängig von Amazon. Das heißt im Klartext: Wer auf Amazon nicht gefunden wird, kommt auch jenseits von Amazon kaum mehr vor. Wie lautet Ihre Handlungsempfehlung für Händler und Hersteller?
Stüber:
Diese Entwicklung ist wirklich nachhaltig. Wenn man nicht auf Amazon sichtbar ist, hat dies immer stärkere Auswirkungen. Die Entscheidung von Herstellern, über oder an Amazon zu verkaufen, hat jedoch nicht nur diesbezüglich eine große Tragweite. Amazon versteht sein Geschäft sehr gut. An dieser Stelle ist es hilfreich, wenn man sich als Hersteller nicht nur dezidiert mit dieser Frage auseinandersetzt, sondern auch die sonstige Positionierung im Blick hat. Es geht für Hersteller - und letzten Endes auch Händler - immer stärker darum, den Kunden mit seinen Bedürfnissen wirklich zu verstehen und an den entscheidenden Stellen mit mehrwertbringenden Angeboten sichtbar zu sein. Händler dürfen in Sachen Positionierung nicht mehr allein auf den Produktverkauf setzen, denn den wird Amazon auch in Zukunft immer weiter optimieren. Aber sie haben – vielleicht auch zusammen mit Herstellern oder anderen Händlern – in der Customer Journey von Kunden eine Chance, wenn sie als Lösungsanbieter agieren und damit die Abhängigkeit von der reinen Sichtbarkeit verringern.
Also müssen auch sie sich ein Stück weit ins Leben ihrer Nutzer einnisten. Aber mal realistisch: Wie viele Händler haben hierfür überhaupt eine Chance?
Stüber:
Amazon wird Händler verstärkt zu Kooperationen zwingen. Ein einzelner kann dieser hohen Entwicklungsgeschwindigkeit und stringenten Entwicklung nichts entgegenhalten und vor allem in den Köpfen der Konsumenten keine Sichtbarkeit erlangen. Also müssen sie schauen, welche Allianzen sinnvoll sind und mit welchen Angeboten sie dann vielleicht auch gemeinsam mit einem originären Wettbewerber Kunden von sich überzeugen können. Es kann kein Einzelkämpfertum mehr geben, wenn Amazon das letztendliche Gegenüber ist, gegen das man antritt.

Modehändler unterschätzen den Einfluss von Amazon

Sie gehen in Ihrer Studie ja auch sehr detailliert darauf ein, in welchen Segmenten der Einfluss von Amazon besonders groß ist. Mode und Möbel, so scheint es, sind hier noch kleine Inseln der Glückseligkeit. Bei Möbeln liegt der Anteil der Amazon-unabhängigen Umsätze bei 37 Prozent, bei Mode gar bei 46 Prozent. Dürfen Händler in diesem Bereich hier aufatmen?
Stüber:  
Eher nicht. Obwohl Amazon sehr stark technikgetrieben unterwegs ist und eher als nüchtern und wenig emotionalisierend wahrgenommen wird und eher spät in den Online-Modehandel eingestiegen ist, macht das Unternehmen fast 12 Prozent seiner Umsätze mit Fashion und Accessoires. Das ist eine Entwicklung, die viele aktuell unterschätzen, weil sie stark an Inspiration und Emotionalisierung glauben.
Ist das denn falsch?
Stüber:
Wichtig ist zu schauen, welche Motivation Konsumenten haben, dort einzukaufen. Hierbei helfen Detailanalysen. Welche Warengruppen sind stark, werden spezielle Marken gekauft, die man sonst nirgends findet, zu welchen Anlässen wird gekauft, ist es die eigene Zielgruppe, die auch zu Amazon geht - oder eine andere? Nur so können Händler und Hersteller verstehen, wie sie Kunden noch besser abholen können. Das ist das, was Amazon im Kern macht: Alle Prozesse werden vom Kunden aus gedacht. In anderen Unternehmen sehen wir oft, dass man auf eine Technologie anspringt und sich erst danach überlegt, was damit eigentlich erreicht werden soll. Und zwar immer dann, wenn es nicht so funktioniert, wie gedacht. Dass Amazon nichts von Inspiration und Emotionalisierung versteht, ist übrigens falsch: Es gibt durchaus spezielle Untershops oder Einstiegsseiten, die zeigen, dass Amazon nicht nur die klassischen Kategorieseiten bauen kann.
Haben Sie denn Erkenntnisse, welche Warengruppen im Modesegment bei Amazon besonders gut laufen?
Stüber:
An dem Thema sind wir gerade dran und hoffen im Laufe des Jahres auf tiefgreifendere Einblicke.
Ein Chart in Ihrer Studie zeigt, dass Smart Consumer, also Personen, die sehr eng mit ihrem Smartphone verbunden sind, im Rahmen ihrer Customer Journey häufig Amazon aufsuchen - und das nicht, um Preise zu vergleichen, sondern um Produktbewertungen auf Amazon zu lesen. Kann der stationäre Handel das nicht irgendwie für sich nutzen?
Stüber:
Produktbewertungen geben Konsumenten in ihrer Kaufentscheidung eine riesengroße Sicherheit. Wenn sie stationär überhaupt einen Verkäufer finden, haben sie eine Einzelmeinung und können schlecht einschätzen, wie unabhängig diese ist. Und obwohl sich viele Konsumenten darüber bewusst sind, dass Produktbewertungen gefälscht werden, trauen sie dieser Masse doch mehr und haben verschiedene Mechanismen entwickelt, um unterbewusst abzugleichen, auf was sie setzen und auf was nicht. Deswegen zücken Kunden im stationären Geschäft häufig ihr Smartphone und rufen die Produktbewertungen bei Amazon auf. Wir alle kaufen immer stärker online ein, nutzen immer stärker Such- und Filterfunktionen, um uns die relevante Produktauswahl für unsere Bedürfnisse zusammenzustellen. Wenn wir im stationären Handel sind, stehen wir vor einem Regal und können die Regalmeter nicht durch Klicks auf das reduzieren, was für uns relevant ist. Das ist ein riesiger Ansatzpunkt für stationäre Händler: Sie müssen dem veränderten Info- und Kaufverhalten der Kunden gerecht werden und sich dabei der Mechanismen aus dem Online-Handel bedienen. Gerade Heavy Online-Shopper halten das Angebot, das sie stationär vorfinden, von der reinen Darbietung her für nicht passend. Es gibt ja schon Händler, die beispielsweise die Sternebewertung bei Amazon anzeigen. Foto Koch in Düsseldorf hat auch gute Erfahrungen damit gemacht, den Amazon-Preis transparent darzustellen. Dieser Preisanker ist ohnehin gesetzt. Dann kann man ihn auch offensiv kommunizieren und für die eigenen Zwecke nutzen.
Was wäre Ihr persönliches Fazit aus der Analyse?
Stüber:
Obwohl viel über Amazon gesprochen wird, ist der Handel noch immer zu wenig vorbereitet. Statt an einzelnen Stellen nach Lösungen zu suchen, sollten Händler das Thema wesentlich schneller und radikaler angehen, indem sie über ihren eigenen Schatten springen und beispielsweise mit dem Wettbewerber ins Gespräch gehen. Nur mit gemeinsamen Angeboten wird es gelingen, in dieser amazonisierten Welt Sichtbarkeit zu erzeugen.



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