Kommentar 13.06.2022, 10:00 Uhr

Warum der stationäre Einzelhandel wirklich stirbt

Das rigide deutsche Ladenschlussgesetz wird häufig als Fessel für den stationären Handel beschrieben. Dabei nutzen inzwischen selbst große Ketten die Möglichkeiten, die ihnen der Gesetzgeber bietet, nicht mehr aus. Aber in geschlossenen Läden kann niemand einkaufen.
(Quelle: Frank Kemper)
Online-Leser von Lokalzeitungen kennen Schlagzeilen wie diese: "Wieder ein Traditionsgeschäft in der Innenstadt muss schließen!" Liest man die Kommentare darunter, ist der Schuldige an der Misere schnell ausgemacht: Amazon.
Doch ich möchte vor allem den berufstätigen Lesern dieses Kommentars mal einen Tipp geben: Wann immer ein Traditionsgeschäft seine Schließung bekannt gibt - werfen Sie doch mal einen Blick auf die Öffnungszeiten, die der Laden bislang hatte. Werktags von 10 bis 18 Uhr, am Samstag bis 12 Uhr, das ist bei kleineren Geschäften eher die Regel als die Ausnahme - in etwas weniger großen Städten gern noch ergänzt durch eine Mittagspause oder gar einen freien Tag unter der Woche.

Wann soll man einkaufen?

Aus Sicht eines berufstätigen Mannes erscheint das absurd. Wir Männer gelten ja ohnehin nicht als die Shopping-Queens, für die ein ergebnisoffener Einkaufsbummel das Größte ist. Doch wenn Mann berufstätig ist, womöglich sogar noch in einem Büro oder gar in einem Betrieb mit Stechuhr, dann stellt sich die Frage, wann er eigentlich in einem Laden einkaufen soll, dessen Arbeitszeiten nahezu komplett deckungsgleich sind mit den eigenen. Natürlich gilt diese Betrachtung für berufstätige Frauen ebenfalls, aber dazu später.
Weist man als Mann auf diese Unvereinbarkeit von Beruf und Shopping-Gelegenheit hin, kommen sehr schnell Kommentare, die eigentlich immer in zwei Richtungen gehen: Erstens sei in Deutschland noch niemand verhungert, irgendwie könne man immer noch einkaufen. Und zweitens: Man solle doch bitte an die armen Verkäufer und Verkäuferinnen denken, die bräuchten schließlich auch Zeit für ihre Familie.
Man möchte angesichts der Absurdität dieser Argumentation zum Beißholz greifen. Denn nach dieser Logik ist jeder Handel, der nicht dem unmittelbaren Überleben dient, ohnehin entbehrlich. Und warum die familiären Belange von Servicekräften im Einzelhandel höhere Prioritäten genießen müssen als die im Gastgewerbe, erschließt sich mir auch nicht. Ein Restaurant mit den Öffnungszeiten eines normalen Schuhgeschäftes hätte vielleicht ausgeglichenere Mitarbeiterinnen, aber sicherlich keinen ausgeglichenen Jahresabschluss.

Fehler im System

Ein Geschäftsmodell, das darauf angewiesen ist, dass sich Anbieter und Kunde zur selben Zeit am selben Ort aufhalten, ist zum Scheitern verurteilt, wenn einer der beiden zu dieser Zeit woanders sein muss. Dies gilt vor allem dann, wenn dieses Geschäftsmodell konkurriert mit einem Online-Handel, der genau dieses Problem nicht hat.
Natürlich gibt es zahllose Dinge, die der stationäre Handel besser kann als ein durchschnittlicher Onlineshop: Persönliche Beratung, anfassen können, sofort mitnehmen können und so weiter. Doch wenn die einzige Chance für einen entspannten Kauf in einem Geschäft darin besteht, Urlaub zu nehmen, dann kauft man eben lieber online. Vor allem dann, wenn man Einkaufen eher als Pflicht und nicht als Spaß empfindet.
Wenn man - wie ich - im beschaulichen Bayern lebt und voller Neid auf Metropolen wie Berlin blickt, in denen viele Geschäfte bis 22 Uhr geöffnet haben, die legendären „Spätis“ sogar noch länger, dann ist man versucht, die Schuld an der Misere bei der hiesigen Politik zu suchen, die dem stationären Handel mit dem Ladenschlussgesetz knebelt, das an Werktagen ab 20 Uhr greift.

MediaMarkt lässt mich im Stich

Doch ein wacher Blick beim Stadtbummel zeigt: Außer Super- und Baumärkten nutzt kaum ein Einzelhändler den gesetzlichen Rahmen aus. Sogar in Bestlagen steht der Berufstätige am Alltag nach Büroschluss meist vor verschlossenen Türen. Und wenn er samstags mal ausgeschlafen und vielleicht noch seinen Business-Anzug in die Reinigung gebracht hat, dann ist auch seine letzte Chance verstrichen, in der City-Boutique Geld zu lassen. Und sogar die Gelegenheiten, sein sauer verdientes Geld für Technikspielzeug auszugeben, werden dem Mann schrittweise genommen: Immer mehr MediaMarkt-Filialen schließen bereits ab 19 Uhr.
Das Beschriebene gilt im selben Maß auch für die berufstätige Frau. Und hier tut sich ein weiteres Mysterium auf: Schaut man sich die Ladengeschäfte in einer durchschnittlichen Großstadt einmal an, so richten sich mindestens 75 Prozent eindeutig an eine weibliche Kundschaft. Doch welche berufstätigen Frauen haben alltags Zeit, tagsüber shoppen zu gehen?
Zurück zum Anfang: Gerade schockte die Nachricht die Branche, dass der Fashion-Retailer Orsay alle Filialen in Deutschland dicht macht, 1.200 Mitarbeiter verlieren ihren Job. Wird mir Orsay fehlen? Eher nicht. Die Filiale im riesigen Münchner Einkaufszentrum Pasing Arcaden hatte bislang von 11 bis 18 Uhr auf. Wann hätte ich da einkaufen sollen?
 

Frank Kemper
Autor(in) Frank Kemper



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